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Wie es sich für eine Laufveranstaltung im Nordosten Englands per stereotyper Ansicht gehört, waren am gestrigen Sonntag Zig-Tausende Laufschuhpaare nass. Trotz des Regens feierten die Teilnehmer*innen beim Great North Run ein grandioses Lauffest und machten dem größten Halbmarathonlauf der Welt alle Ehre. Aus dem Teilnehmerinnenfeld sticht der Sieg der über den Laufsport hinaus engagierten Kenianerin Mary Ngugi-Cooper in einem auch sportlich faszinierenden Eliterennen heraus.
Der Veranstalter schrieb von einer der spannendsten Entscheidungen der seit 1981 andauerten Veranstaltungshistorie im Eliterennen der Frauen. Siegerin Mary Ngugi-Cooper aus Kenia, die Äthiopierinnen Senbere Teferi und Alemu Megertu, die Kenianerin Sheila Chepkirui und die Britin Eilish McColgan trennten im Ziel lediglich fünf Sekunden, mit recht geringem Rückstand folgte Vivian Cheruiyot als Sechste. Die kenianische Siegerin von 2016 und 2018 steht übrigens unmittelbar vor ihrem 41. Geburtstag. Nachdem sie im Sommer 2023 aus einer längeren Mutterschaftspause zurückgekehrt ist, will es die Olympiasiegerin von Rio im 5.000m-Lauf noch einmal wissen: Den Paris Marathon im Frühjahr beendete sie bereits stark: als Dritte.
Diese Auflistung zeugt auch von einer besonders starken Besetzung, für die die Veranstaltung durchaus bekannt ist: ein eher kleines Elitefeld, dafür aber mit hohem Promi-Faktor. Der Great North Run ist für die Weltklasse eine elitäre Gelegenheit der Generalprobe für weitere Halbmarathon- oder Marathon-Aufgaben im Laufherbst 2024 und für die ambitionierte britische sowie internationale Laufszene eine der beliebtesten Anlaufstellen für einen Wettkampf auf dieser Distanz. Zu 60.000 ging es laut Kommunikation der Anmeldezahlen von Seiten des Veranstalters am vergangenen Sonntag auf die Laufstrecke – eine unvergleichlich gigantische und und dynamische Welle der sportlichen Bewegung.
Vivian Cheruiyots starke Leistung als fast 41-Jährige hätte die Geschichte des Tages werden können. Die Show stahl ihr aber eine fünf Jahre jüngere Landsfrau. Mary Ngugi-Cooper ist schon seit vielen Jahren Teil der Weltklasse im Straßenlauf. Der Sieg beim Great North Run ist für die 35-jährige Kenianerin, die in den Jahren 2014 und 2016 Silber und Bronze bei den Halbmarathon-Weltmeisterschaften gewonnen hat, eine der besonderen Leistungen aus sportlicher Sicht in ihrem Karriereverlauf. Selten hat sie bisher so starke Gegnerinnen auf der Laufstrecke besiegt.
Selten war der Zieleinlauf in South Shields so dramatisch eng wie dieser Endspurt. Aus statistischer Sicht ist auch das Prestige beachtlich: Dank der besten Leistung auf den letzten Metern im Feld liegt die Serie kenianischer Erfolge hintereinander beim Great North Run nun bei elf. Senbere Teferi und Alemu Megertu, wie Ngugi-Cooper primär Marathonläuferinnen, waren knapp dran, den kenianischen Erfolgslauf zu brechen.
Auch aus emotionalen Gründen hat der gestrige Sieg im direkten Gegeneinander mit bärenstarken Weltklasse-Marathonläuferinnen, zu denen auch Chepkirui zu zählen ist, hohes Gewicht. Mary Ngugi-Cooper ist nämlich in zweiter Ehe mit einem Briten verheiratet und wird von der britischen Mittelstreckenlegende Steve Cram trainiert, wodurch sie viel Zeit im Vereinigten Königreich verbringt – in der mittelenglischen Großstadt Leeds. „Ich bin überwältigt. Ich wollte immer schon dieses Rennen bestreiten, aber irgendwie hat das Timing mit meinen Marathon-Planungen nie gepasst. Heuer war es ideal“, sagte die die erfahrene Läuferin laut „Athletics Weekly“ nach dem Rennen. „Mein Coach hat mich perfekt vorbereitet. Ich wusste, dass ich einen guten Endspurt habe. Daher hatte ich keine Angst vor den letzten 400 Metern.“
Ngugi-Cooper blickt auf eine facettenreiche Laufbahn zurück, in der ihr sportliches Wirken nicht immer im Vordergrund stand. Noch bevor sie der internationalen Laufszene bekannt war, heiratete sie im Alter von 21 Jahren Samuel Wanjiru. Der Kenianer war damals der Jungstar schlechthin in der Marathonszene, die er mit seinem Alleingang zu Olympia-Gold im schwül-heißen Wetter über Peking 2008 verblüfft hatte. 2010 gebar sie eine Tochter, Wanjiru brachte zwei Töchter aus früherer Ehe mit in die Beziehung, die rasch kompliziert wurde. Wanjirus Ex-Frau und seine Mutter wohnten in direkter Nachbarschaft des Paares, der Marathon-Olympiasieger und seinerseits das wohl faszinierendste Marathon-Talent der damaligen Zeit weltweit verfiel dem Alkohol und servierte Mary Wacera Ngugi, wie sie damals hieß, bei einem TV-Auftritt öffentlich ab.
Wanjiru, vom dem sie sich in der Zwischenzeit getrennt hatte, verstarb unter nicht restlos geklärten Umständen am 15. Mai 2011 bei einem Sturz vom Balkon seines Hauses. Aus dieser Zeit voller familiärer Streitigkeiten befreite sie sich 2014 mit einem überraschenden Sieg beim World’s Best 10K gegen prominente Kontrahentinnen, womit der kenianische Verband sie für die Halbmarathon-WM in Kopenhagen 2014 nominierte, wo Kenias Läuferinnen alles abräumten. Den größten bisherigen Erfolg bei einem Einzelrennen feierte Wacera 2016 beim Houston Halbmarathon in damaligen Streckenrekord von 1:06:29 Stunden. In der heurigen Wettkampfsaison hat sie, nun mit Namen Ngugi-Cooper unterwegs, bereits den Halbmarathon von Rom nach Ostia im März gewonnen.
Nach der Ermordung der kenianischen Weltklasseläuferin Agnes Tirop im Herbst 2021 war Ngugi-Cooper eine der engagiertesten Athletinnen, die in der Öffentlichkeit für den Schutz junger Kenianerinnen vor häuslicher Gewalt durch Männer eintraten. Sie war federführend für die Gründung des Nala Track Club, einen in Kenia beheimateten Laufverein mit schulischer Ausbildungsmöglichkeit, der nur junge Läuferinnen aufnimmt und diese ausschließlich von Trainerinnen betreuen lässt. Es werde Generationen dauern, um die kenianische Kultur zu verändern und Kenianerinnen komplett von häuslicher Gewalt zu befreien, gezielte Initiativen wie der Nala Track Club seien erste Schritte, schrieb Ngugi-Cooper in einem Artikel auf der Website von World Athletics im Jahr 2022.
Der Sieg beim Great North Run ereignete sich nur wenige Tage nach dem Tod der ugandischen Spitzenläuferin Rebecca Cheptegei (siehe RunUp.eu-Bericht). Durch diesen schockierenden Todesfall ist die Gewalt an Frauen in Ostafrika gegenwärtig in der Laufszene wieder sehr präsent. Ngugi-Cooper ließ es sich laut kenianischen Medienberichten nicht nehmen, in den Interviews nach ihrem Sieg ein großes Lob an alle Frauen auszusprechen, die beim Great North Run mitgemacht und damit andere Frauen und Mädchen inspiriert hätten. Es sei ihr eine Ehre gewesen, mit ihnen gemeinsam diesen Event zu bestreiten.
„Was für ein Tag! Jedes Jahr staune ich aufs Neue über das Laufen, das wir beim Great North Run erleben. Diese Veranstaltung ist Jahr für Jahr ein fixer Bestandteil des Laufkalenders und zieht nicht nur die Weltklasse an, sondern viele Tausende von Vereins-, Freizeit- und Charityläufer*innen, die sich dieser Herausforderung stellen.“
Sir Brendan Foster, Gründer und Präsident des Great North Run, der, wie es der Zufall will, auf den Tag genau vor 50 Jahren Europameister im 5.000m-Lauf in Rom wurde.
Eilish McColgan dürfte als beste Britin des Great North Run 2024 Rückenwind aus dem Wettkampf nehmen, es war nämlich ihr bester seit der Rückkehr von einer komplizierten Verletzung zu Saisonbeginn. Die Siegerin des Österreichischen Frauenlaufs (siehe RunUp.eu-Bericht) kam beim Olympischen 10.000m-Lauf von Paris nur zu Rang 15 und wurde eine Woche vor dem Great North Run als Siegerin des Big Half in London britische Halbmarathonmeisterin. „Wenn mir vor einer Woche jemand diese Leistung prophezeit hätte, hätte ich ihm nicht geglaubt“, so McColgan gegenüber der BBC.
Nur allzu gerne hätte Marc Scott seiner CV einen zweiten Triumph beim Great North Run hinzugefügt. Vor drei Jahren lief der 30-Jährige bereits einmal als Erster über die Ziellinie an der Küste bei South Shields ein und führte damals die Serie britischer Siege durch die sechs Triumphe von Mo Farah für ein weiteres Jahr fort. Freilich hatte Scott damals, als Großbritannien zu den ersten Ländern Europas gehörte, das sich für Laufevents in der Pandemie mit vielen Teilnehmer*innen öffnete, den Vorteil, keine aus Ostafrika angereiste Konkurrenz auf der Strecke gehabt zu haben.
Die afrikanische Konkurrenz war auch dieses Mal rar gesät, der Veranstalter hatte sich offensichtlich in der Budgetplanung auf das hochkarätige Elitefeld der Frauen konzentriert. Doch einer lief in seiner eigenen Klasse: Abel Kipchumba, der mit seiner Bestleistung 2021 in Valencia bereits an der 58-Minuten-Marke gekratzt hat, war in einer Siegerzeit von 59:52 Minuten nicht zu schlagen. Es war sein zweiter großer Halbmarathon-Sieg des Jahres nach jenem beim New York City Halbmarathon im März. Die acht Sekunden, mit der er eine Wettkampfzeit über einer Stunde verhinderte, sind für den Veranstalter durchaus bedeutend: So wurde in den vergangenen sechs Jahren diese bedeutende Marke fünfmal geknackt, im Vorjahr war es beim Sieg von Tamirat Tola, mittlerweile Marathon-Olympiasieger, noch knapper (59:58).
Nicht so prächtig lief es für den zweiten Top-Kenianer im Feld, Evans Chebet, der nach 1:02:31 Stunden als Fünfter über die Ziellinie lief. Der bei den Nominierungen zu den Olympischen Spielen vom kenianischen Verband etwas übergangene Marathon-Spezialist, der bereits in den Siegerlisten von Boston und New York steht, ist allerdings kein bekannter Halbmarathon-Könner. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren (!) trat der 35-Jährige über diese Distanz an, dazwischen lief er 2017 einmal einen Zehn-Meilen-Wettkampf in Tilburg. Chebet fordert am 3. November beim New York City Marathon Olympiasieger Tamirat Tola – ein Duell, das enorme Vorfreude in der Szene entfacht.
Scott finishte in einer Zeit von 1:01:11 Stunden als Zweiter und lief im Vergleich zu seinem Sieg vor drei Jahren sogar um elf Sekunden schneller. Damit blieb Scott bester Europäer vor dem drittplatzierten Norweger Sondre Nordstad Moen (1:01:25). „Ich bin nicht so schnell gelaufen wie ich mir das gewünscht hätte“, sagte der das gesamte Rennen im Regen auf sich alleine gestellte Lokalmatador nachher.
Nach einem eher mittelprächtigen Marathon-Debüt in London im April, das ihn nicht wie erhofft zu den Olympischen Spielen geführt hat, lief der Engländer Anfang Juni nur ein Bahnrennen und feierte beim Great North Run somit seine Rückkehr auf die Wettkampfbühne nach drei Monaten. In der Vorbereitung war die Geburt seines Kindes im Mai mit den unregelmäßigen Schlafzeiten die größte Challenge, verriet Scott in einem Interview mit „Athletics Weekly“. Beim Valencia Halbmarathon am 27. Oktober will das Mitglied des NN Runnnig Teams erstmals im Halbmarathon die Ein-Stunden-Marke unterbieten.
Der AJ Bell Great North Run ist der größte Halbmarathonlauf der Welt. Rund 60.000 Laufbegeisterte haben sich für die Halbmarathon-Distanz zwischen Newcastle und South Shields angemeldet. Da die Halbmarathon-Strecke eine Punkt-zu-Punkt-Strecke ist, werden die erzielten Leistungen zwar als persönliche Bestleistungen anerkannt, nicht jedoch in offiziellen Rekordlisten gezählt.
Am Tag vor dem Halbmarathon nahmen 10.500 Kinder und Jugendliche an den Nachwuchsläufen des Great North Run über 1,5 oder 4 Kilometer teil. Aufgrund des jahrzehntelangen, kontinuierlichen Einsatzes für die Teilnahme vieler Tausender Laufbegeisterter ist der Great North Run Teil des Leichtathletik-Welterbes.
Spektakulär ist auch die Charity-Initiative des Great North Run. Bei der diesjährigen Veranstaltung wurden laut Angaben des Veranstalters rund 30 Millionen Euro ein Spendengeldern gesammelt.
Autor: Thomas Kofler
Bild: © Harry Mattison, CC BY-SA 4.0, Creative Commons Wikimedia – der Bildausschnitt des Fotos wurde auf quadratisch verändert. Das Bild zeigt Mary Ngugi-Cooper beim Boston Marathon 2021.