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Darf man die Frage nach der Nummer eins im Marathon stellen, wenn Brigid Kosgei nicht im Rennen ist? Die Brigid Kosgei, die 2019 in Chicago den Weltrekord auf eine fantastische Zeit von 2:14:04 Stunden gestellt hat und zuletzt beim Tokio Marathon in einer Siegerzeit von 2:16:02 Stunden markiert hat? Es ist heikel, aber man darf sich aus dem Fenster lehnen. Olympiasiegerin und New-York-City-Marathon-Champion Peres Jepchirchir und die Siegerin des London Marathon 2021 in Weltjahresbestleistung von 2:17:43 Stunden, Jocyline Jepkosgei treffen beim Boston Marathon aufeinander. Bei allem Respekt vor der Weltklasse, die sich beim ältesten Stadtmarathon der Welt seit Jahrzehnten üblicherweise tummelt: Ein so hochkarätiges Duell gab es schon eine Ewigkeit nicht mehr. Die beiden Kenianerinnen stiegen nach glänzenden Halbmarathonleistungen in jungen Jahren in den Marathon auf und stehen dort im besten Wettkampfalter von 28 Jahren in der ersten Reihe. Jepkosgei, Weltranglistenvierte im Marathon, Hallen-WM-Vize-Weltmeisterin 2018, ehemalige Weltrekordhalterin im Halbmarathonlauf und im 10km-Lauf und Siegerin des London Marathon. Jepchirchir als Weltranglistenerste im Marathon, zweifache Halbmarathon-Weltmeisterin und große Triumphatorin über Brigid Kosgei unter den Olympischen Ringe im Hitzerennen von Sapporo.
Marathon-Olympiasiegerinnen sind unsterblich in der Gunst der kenianischen Bevölkerung, genau wie ihre männlichen Pendants. Diese Erkenntnis reifte in Jepchirchir bald nach ihrer Rückkehr in der Heimat. Staatspräsident Uhuru Kenyatta verlieh ihr den „Order of the Grand Warrior of Kenya“, den sie umgehend ihrer Familie für die „dankenswerte, essentielle Unterstützung“ widmete. Die 28-Jährige war in der kenianischen Medienlandschaft plötzlich so gefragt wie kaum eine Landsfrau. Der Boston Marathon sei der nächste Schritt ihres märchenhaften Wegs, erklärte sie den Journalisten im Winter, wenige Wochen nach ihrem Triumph beim New York City Marathon. Erst nach dem Klassiker an der US-Ostküste sei Zeit, um den Weltrekord von Kosgei in den Fokus zu nehmen, vielleicht in Berlin. „Obwohl das Jahr 2021 für mich nicht besser verlaufen hätte können, ich werde mir Mühe geben, 2022 den nächsten Schritt zu vollziehen“, sagte die von Athletenmanager Gianni Demadonna vertretene Athletin kenianischen Medien.
Die beiden kenianischen Stars haben einiges gemeinsam. Beide sind Mütter, beide haben sich im Halbmarathon zur Weltklasse aufgeschwungen und in den letzten Jahren wichtige Marathonläufe gewonnen. Beide sind Sieger der Abbott World Marathon Majors Gesamtwertung und haben sich das Preisgeld im vergangenen Jahr aufgeteilt. Doch in Boston wird es wenig Gemeinsames geben. Jepchirchir und Jepkosgei, die erst nach der Geburt ihres Sohnes mit Leistungssport begonnen hat, sind Gegnerinnen und die ersten Anwärterinnen auf den Sieg bei der 126. Auflage des Klassikers. Jepkosgei hat gegen die Olympiasiegerin noch keinen Wettkampf im Halbmarathon oder Marathon gewonnen, sie war jeweils Gratulantin bei Jepchirchirs Triumphen beim RAK Halbmarathon 2017, bei den Halbmarathon-Weltmeisterschaften 2020 und beim Valencia Marathon eineinhalb Monate später. In Spanien wurde sie immerhin Zweite, bei den Halbmarathon-Weltmeisterschaften davor war sie als Sechste die Geschlagene. Dass das Duell in Boston nun zustande kommt, ist laut einem Bericht von „Let’s Run“ unter Berufung auf das Management von Jepkosgei etwas dem Zufall geschuldet. Aufgrund einer leichten Verletzung nach dem Wiedereinstieg ins Training nach dem London-Triumph kam der ursprünglich geplante Antritt in Nagoya etwas zu früh, womit Plan B aktiviert wurde.
Die beiden kenianischen Topstars stellen den Rest des hochkarätigen Elitefelds des Boston Marathon 2022 in den Schatten. Doch der erste Marathon am „Patriot’s Day“ seit 2019 steht nicht komplett nur im Zeichen dieses Duells. Denn auch aufgrund der Verschiebung des London Marathon in den Herbst ist der Boston Marathon in beiden Eliterennen so gut besetzt wie schon lange nicht mehr. Degitu Azimeraw könnte die „Lachende Dritte“ sein, auch sie ist schon unter 2:18 Stunden gelaufen. Die 23-jährige Äthiopierin, die zur starken, jungen Trainingsgruppe von Tessema Abshero gehört, der auch die Halbmarathon-Größen Yalemzerf Yehualaw und Tsehay Gemechu sowie Rotterdam-Siegerin Haven Hailu betreut (vgl. LetsRun.com), landete beim London Marathon 2021 als Zweitplatzierte gerade einmal 15 Sekunden hinter der Siegerin Jepkosgei und ist die jüngste der vier Marathonläuferin aus ihrem Land, die bereits eine Zeit von unter 2:18 Stunden geschafft haben. Nach den Steigerungen der letzten Zeit, die auch den Sieg beim Silvesterlauf in Madrid inkludieren, ist ihr der große Coup in Boston durchaus zuzutrauen. Zumal der Erfahrungsnachteil – Azimeraw geht in ihren vierten Marathon – gegenüber den beiden Kenianerinnen gar nicht so groß ist. Beim Boston Marathon spielt Erfahrung aufgrund der eigenen Renncharakteristik und der selektiven Streckenführung aber sehr wohl eine wichtige Rolle.
Viel Erfahrung hat die zweifache Weltmeisterin Edna Kiplagat, mittlerweile 42 Jahre alt – der ältere Sohn steht kurz vor der Volljährigkeit, ihre erste internationale Präsenz für den Kenianischen Leichtathletik-Verband ist 26 Jahre her. Wenn überhaupt ist der Boston Marathon vielleicht der einzige World Marathon Major, den die mehrfache Mutter unter diesen Voraussetzungen noch gewinnen kann. Zumindest war die Kenianerin nach ihrem eindrucksvollen Triumph 2017 bei ihren zweiten Plätzen 2019 und 2021 erstaunlich nahe dran. Sie liebe das Laufen als Profi nach wie vor und glaube, dass es bei ihr nie endet, sagte sie unlängst in einer Story auf der Website der Olympischen Spiele. Sie meint, sie könne in Boston vielleicht sogar gewinnen.
Zwei weitere interessante Teilnehmerinnen kommen aus Äthiopien: Etagegn Woldu debütierte im vergangenen Jahr in Valencia in 2:20:16 Stunden und Ababel Yeshaneh, Dritte des New York City Marathon, hat ihre Fähigkeiten im Marathon als ehemalige Halbmarathon-Weltrekordhalterin angedeutet. Spannend ist auf der Auftritt von Viola Cheptoo, die sich in New York bei ihrem Marathon-Debüt nur der Olympiasiegerin Peres Jepchirchir geschlagen geben musste – da kam selbst ihr Bruder Bernard Lagat im TV-Studio aus dem Staunen kaum heraus.
Die Top-Amerikanerin im Rennen ist neben der ehemaligen Siegerin Desiree Linden, die nicht mehr die beste Leistungsfähigkeit ihrer Karriere hat, Olympia-Medaillengewinnerin Molly Seidel. Die 27-Jährige wies im Vorfeld Trainingsrückstand auf, kommt aber mit der Empfehlung großer Taten. Nach der Sensationsmedaille in Japan lief sie in New York die schnellste Marathonzeit einer Amerikanerin auf dem New Yorker Kurs und wurde starke Vierte. Seidel lebte einst in Boston, ist den Boston Marathon aber noch nie gelaufen. Sarah Vaugn, die ihr Marathon-Debüt im Dezember in Sacramento gewann, Nell Rojas, Stephanie Bruce und Dakotah Lindwurm sind die weiteren US-Amerikanerinnen mit Bestleistungen unter 2:30 Stunden im Rennen, dagegen musste Sara Hall absagen. Dazu kommen die kenianische Marathonrekordhalterin Malindi Elmore und ihre Vorgängerin Natasha Wodak. Mit ihrem Alter von 42 und 40 Jahren spielen sie in der Liga von Kiplagat, zeigten in Sapporo auf den Positionen neun und 13 aber ihre Klasse.
Aus Europa ist nur eine Topläuferin beim Boston Marathon 2022 dabei, die Britin Charlotte Purdue. Die nach ihrer Nicht-Nominierung für die Olympischen Spiele so Enttäuschte bereitete sich in Australien auf ihr nächstes großes Ziel vor.
Angesichts der Qualität steht in Boston der Streckenrekord von Bizunesh Deba aus dem Jahr 2014 auf dem Prüfstand: 2:19:59 Stunden (die ursprüngliche Siegerin Rita Jeptoo wurde wegen Dopings disqualifiziert). Die besten äußeren Bedingungen seit langem in Boston, mit kühlen Temperaturen und gutem Wetter, möglicherweise leichtem Wind von hinten, werden prognostiziert. Die Frauen starten beim Boston Marathon acht Minuten nach den Männern, tragen also ihr eigenes Rennen aus.