Digital Marathon

Im Sommer 2015 erhielt ich eine Einladung nach Prag. In der tschechischen Hauptstadt sollte am 18. September ein Marathon präsentiert werden. Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen, schließlich findet jährlich im Mai der Prag Marathon statt, der sich innerhalb der europäischen Laufszene gut etabliert hat. Einen zweiten Marathon in einer Stadt, das gibt es weltweit selten.

In Warschau und in Seoul zum Beispiel. Einen wirklichen Sinn konnte ich in dieser Idee für Prag nicht erkennen. Neugierig nahm ich die Einladung an und reiste in die tschechische Hauptstadt. Immerhin: Die Lauf-Events von RunCzech florierten seit Jahren, sind sehr gut organisiert und locken kenianische wie internationale Stars an.

In Prag angekommen, legte Run­Czech-Präsident Carlo Capalbo die Karten auf den Tisch. Er präsentierte den Prag Digital Marathon, den ersten digitalen der Welt. Der Italiener ist ein Macher und bekannt für Innovationen.

Die Idee ist simpel: Da der Prag Marathon mit 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern limitiert ist, wollte der Veranstalter all jenen, die keinen Startplatz erhielten, die Möglichkeit geben, zeitgleich mit den real teilnehmenden Läufern den Prag Marathon digital zu absolvieren. Marc Hardy entwickelte mit seinem Unternehmen RunSocial eine App, mit dem die digitalen Läufer, verbunden mit einem Laufband, am Prag Marathon teilnehmen können. Unabhängig von Tageszeitpunkt und Aufenthaltsort. Auf einem Bildschirm läuft ein aufwändig produziertes Video der Originalstrecke in der mit dem Lauftempo auf dem Laufband harmonierenden Geschwindigkeit.

So genießen die digitalen Läuferinnen und Läufer nicht nur die herrliche Kulisse Prags, sondern auch die Anfeuerungen des Publikums und die sonstige Atmosphäre von Mitläufern, Verpflegungsstationen und Musikgruppen. Also das gesamte Erlebnis-Paket auf Basis digitaler Inszenierung und künstlicher Emotionen. Ohne selbst in Prag anwesend zu sein. Die erzielten Laufleistungen werden über die App in das offizielle Ergebnis des Prag Digital Marathon verpackt. Ein digitaler Laufvergleich mit Konkurrenten ist natürlich über die App möglich, schließlich mussten sich alle Teilnehmer des digitalen Marathon registrieren.

Der Prag Marathon trat als Pionier auf, Hardy sprach bei der Präsentation von einem bedeutenden Schritt in der Welt der Running Technology. Der digitale London Marathon folgte ein Jahr später, die New York Road Runners starteten ihre digitale Offensive im Jahr 2018. Nach dieser pompösen Präsentation hörte ich allerdings nichts mehr vom internationalen Prag Digital Marathon.

Auf Nachfrage bei Marc Hardy von RunSocial, wie das Projekt voranschreite, erhielt ich von seinem Büro nur den Hinweis, ich solle mich bei den Veranstaltern direkt melden und dass sich RunSocial aktuell auf andere Projekte fokussiere. Jan Razek und Diana Rybachenko vom RunCzech-Team bestätigten meinen Verdacht, dass die Innovation sich nicht wie erwartet entfaltete. 2016 nahmen 28 Läuferinnen und Läufer am Prag Digital Marathon teil, ein Jahr später 38 und 2018 42. Keine berauschende Steigerung und definitiv nicht die Erfolgsstatistik, die sich RunCzech erhofft hatte.

Die zukünftigen Bestrebungen des Prag Digital Marathon scheinen nicht mehr mit viel Motivation ausgestattet. Das Projekt läuft auch für 2019 weiter, die Promotion für den Prag Digital Marathon hat RunCzech deutlich zurückgefahren. Vorerst gestorben ist dagegen das Projekt London Digital Marathon. Dort wird es laut Auskunft des Veranstalter-Teams bereits ein Jahr nach der Premiere nicht fortgesetzt.

Der digitale Marathon ist ein logischer Schritt innerhalb einer modernen, technischen Entwicklung. Die Laufszene hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stetig verändert und ich verfolge auch diesen Prozess mit großem Interesse. Marc Hardy, Mitgründer und Software-Entwickler der RunSocial-App, scheint überzeugt vom Erfolg des digitalen Marathons in der Zukunft. Allerdings lese ich zwischen den Zeilen heraus, dass der Hype um digitale Marathons abgenommen hat. Die Erfahrungen in Prag und London bestätigen dies.

Vielleicht ist die aktuelle Laufszene noch nicht bereit dafür und es braucht Zeit. Wohl auch, bis noch mehr Lauf­veranstaltungen den digitalen Zusatzweg einschlagen.

Autor: René van Zee
Bilder: ©SIP | René van Zee